Das Bundes-Verfassungsgesetz

Das österreichische Bundesverfassungsrecht ist über eine Vielzahl von Rechtstexten verstreut, von denen das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) das mit Abstand bedeutendste ist. Es regelt die Wahl des Nationalrates und des Bundespräsidenten, wie die Bundesregierung und viele andere wichtige Amtsträger ernannt und abberufen werden und legt die Kompetenzen all dieser Organe fest. Es enthält die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und enthält die Grundsätze für die Verfassungen der neun Bundesländer. Und das B-VG regelt die Mitwirkung Österreichs in der Europäischen Union und in der Völkergemeinschaft.

Der ursprüngliche Langtitel des B-VG lautete bis 1929: „Gesetz, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird“. Die Bezeichnung „Bundes-Verfassungsgesetz“ mit dem charakteristischen Bindestrich, der es von anderen Bundesverfassungsgesetzen unterscheiden sollte, war anfangs als Kurztitel vorgesehen und ist seit 1994 der alleinige Titel.

Das B-VG wurde am 1. Oktober 1920 von einer demokratisch gewählten Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen und trat am 10. November 1920 in Kraft. Nach der Errichtung einer Diktatur unter Engelbert Dollfuß 1933 wurde es – rechtswidrigerweise – mit Ablauf des 30. Juni 1934 außer Kraft gesetzt. Knapp elf Jahre später, nach der Überwindung der nationalsozialistischen Herrschaft, wurde es, mit 1. Mai 1945, wieder in Geltung gesetzt. Seitdem gilt das B-VG ununterbrochen fort und ist somit die älteste noch geltende republikanische Verfassung Europas. Zwar wurde es wiederholt und tiefgreifend verändert; die Grundzüge der Urfassung finden sich aber noch heute im Text, wie auch die leitenden Grundprinzipien der Verfassung (zuvörderst das demokratische, das republikanische, das bundesstaatliche und das rechtsstaatliche Prinzip) – abgesehen vom Beitritt Österreichs zur EU 1995 – bis heute nicht wesentlich verändert worden sind.

Die Entstehung des B-VG 1920 war ein verwickelter politischer Prozess, der sich von der Staatsgründung am 30. Oktober 1918 bis zur Beschlussfassung in der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 über knapp zwei Jahre hinzog. Von zentraler Bedeutung waren die Verfassungsentwürfe, die der Wiener Universitätsprofessor Hans Kelsen im Auftrag des sozialdemokratischen Staatskanzlers Karl Renner erstellte und die den meisten nachfolgenden Beratungen als Diskussionsgrundlage dienten. Der christlichsoziale Staatssekretär Michael Mayr erstellte ebenfalls, teilweise auf Kelsen aufbauend, mehrere Verfassungsentwürfe und das Personal der Staatskanzlei unterstützte sowohl Kelsen als auch Mayr bei ihren Arbeiten. Die Länder artikulierten insbesondere in zwei großen Konferenzen im Frühjahr 1920 in Salzburg und in Linz ihre verfassungspolitischen Vorstellungen. Der endgültige Text wurde dann im Sommer 1920 in einem Unterausschuss des Verfassungsausschusses der Konstituierenden Nationalversammlung fertiggestellt. In diesem Unterausschuss führte der Sozialdemokrat Otto Bauer den Vorsitz, sein Stellvertreter war der Christlichsoziale Ignaz Seipel; Kelsen gehörte dem Unterausschuss als parteiunabhängiger Experte an. In vielen Punkten konnte nur mit großer Mühe ein Kompromiss gefunden werden, bei einigen Fragen – wie etwa bei der Frage der Grundrechte – konnte man sich nur darauf einigen, vorerst den Rechtszustand der Monarchie beizubehalten.

So war das B-VG 1920 von Anfang an ein Verfassungstorso, dem mit wenig Verfassungspathos begegnet wurde – was durch seinen nüchternen Stil und das Fehlen einer Präambel noch gefördert wurde. Viele nachfolgende Verfassungsnovellen haben dazu beigetragen, dass das B-VG in den 1980er Jahren sogar als „Ruine“ bezeichnet wurde. Dennoch hat es sich gerade angesichts der Krisen in jüngster Vergangenheit bewährt, sodass jüngst sogar seine „Schönheit“, ja „Eleganz“ gerühmt wurde. Seine integrative Kraft für die Republik Österreich ist stärker denn je, weshalb eine Neukodifikation der Bundesverfassung zumindest derzeit unwahrscheinlich ist.