Christlichsoziale Partei
25. Juni 1920
Verfassungsentwurf (Druck )
AVA, Nachlasssammlung, E 1707 (Nachlass Mayr) Mappe 2
Das Original befindet sich im Eigentum des Österreichischen Staatsarchivs unter der ÖStA-Signatur „AVA, Nachlasssammlung, E 1707 (Nachlass Mayr) Mappe 2“. Die Verwendung des Digitalisats durch Dritte bedarf einer schriftlichen Bewilligung des ÖStA entsprechend der geltenden Benutzungsordnung.
Die Gefertigten stellen den Antrag: „Das Haus wolle den beigeschlossenen Gesetzentwurf zum Beschlusse erheben." In formaler Beziehung wolle dieser Antrag dem Verfassungsausschusse zugewiesen werden.
Wien, 25. Juni 1920.
(1) Österreich ist eine demokratische Republik.
(2) Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt und in seinem Namen ausgeübt.
(1) Die Republik Österreich ist ein freier Bundesstaat.
(2) Der Bund wird gebildet durch die selbständigen Länder: Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Wien.
(3) Bundeshauptstadt und Sitz der obersten Organe des Bundes ist Wien.
Das Bundesgebiet bildet ein einheitliches Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebiet.
(1) Jeder Landesbürger ist Angehöriger des Bundes.
(2) Die Landesbürgerschaft ist an die Heimatsberechtigung in der Gemeinde eines Landes gebunden.
Jeder Bundesangehörige hat in jedem Lande des Bundes die gleichen Rechte und Pflichten wie die Bürger des Landes selbst.
(1) Alle Bundesangehörigen sind vor dem Gesetze gleich. Vorrechte der Geburt, des Standes und des Bekenntnisses sind für immer ausgeschlossen.
(2) Die politischen Rechte und Freiheiten des Volkes werden durch die Bundesverfassung gewährleistet.
Die deutsche Sprache ist, unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten gesetzlich eingeräumten Rechte, die Staatssprache der Republik.
(1) Der oberste Träger der öffentlichen Gewalt der Republik ist die Bundesversammlung.
(2) Die Bundesversammlung besteht aus einem Volkshaus, dem Bundestag und aus einem Länderhaus, dem Bundesrat.
(1) Der Bundestag wird auf Grund des gleichen direkten, geheimen und persönlichen Wahlrechtes aller erwachsenen Männer und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vom ganzen Bundesvolk gewählt.
(2) Seine Wahlperiode beträgt fünf Jahre.
(1) Der Bundesrat wird aus Vertretern der Bundesländer gebildet, die von den Landtagen aus ihrer Mitte durch Verhältniswahl entsendet werden; jedes Bundesland wird grundsätzlich durch drei Mitglieder vertreten, die Bundesländer mit mindestens 800.000 Einwohnern entsenden vier Mitglieder und für je weitere 400.000 Einwohner noch ein weiteres Mitglied, doch darf auf kein Land mehr als ein Fünftel der Gesamtzahl der Mitglieder entfallen.
(2) Die Landtage selbst werden nach denselben Grundsätzen wie der Bundestag von den im Lande wohnhaften Bundesangehörigen gewählt.
(1) Die Bundesversam[m]lung entscheidet über Krieg und Frieden und verfügt über die bewaffnete Macht der Republik.
(2) Ihr obliegt auch die Wahl der obersten Funktionäre des Bundes.
(1) Die gesetzgebende Gewalt ist zum Teile dem Bunde, zum Teile den Bundesländern übertragen.
(2) Das gesetzgebende Organ des Bundes ist der Bundestag in Gemeinschaft mit dem Bundesrat.
(3) Die gesetzgebenden Organe der Bundesländer sind die Landtage.
(1) Vorschläge für Bundesgesetze werden im Bundestag eingebracht.
(2) Auch aus der Mitte des Bundesvolkes kann von 300.000 Wahlberechtigten oder von der Hälfte der Wahlberechtigten dreier Bundesländer das Verlangen nach Einbringung eines Gesetzesvorschlages gestellt werden.
(1) Jeder Gesetzesbeschluß des Bundestages bedarf grundsätzlich der Zustimmung des Bundesrates.
(2) Versagt der Bundesrat die Zustimmung, so gelangt der Gesetzesbeschluß neuerlich vor den Bundestag; wird der erste Beschluß vom Bundestag bei Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder mit Zweidrittelmehrheit wiederholt, so ist er ohne weiteres Verfahren als Gesetz kundzumachen.
(3) Verfassungsänderungen, Änderungen des Wehrgesetzes und Staatsverträge können jedoch auf Grund der Beschlüsse des Bundestages allein ohne Zustimmung des Bundesrates niemals Gesetz werden. Versagt der Bundesrat auch dann seine Zustimmung nachdem der Bundestag zum zweitenmale über den Gegenstand Beschluß gefaßt hat, so kann bei Verfassungsänderungen und Änderungen des Wehrgesetzes eine endgültige Entscheidung durch Volksabstimmung herbeigeführt werden, wenn diese vom Bundestag oder vom Bundesrat mit Mehrheit verlangt wird.
(4) Eine Gesamtänderung der Verfassung muß auch im Falle der Zustimmung des Bundesrates noch einer Volksabstimmung unterzogen werden.
(5) Die jährliche Bewilligung des Bundesbudgets und die jährliche Genehmigung der 6 Rechnungsabschlüsse, die Aufnahme und Konvertierung von Bundesanleihen und die Verfügung über das Bundesvermögen sind ausschließlich Sache des Bundestages.
(1) Die vollziehende Gewalt wird teils vom Bunde, teils von den Bundesländern ausgeübt.
(2) Mit der Ausübung der vollziehenden Gewalt sind Volksbeauftragte betraut, die auf jederzeitigen Widerruf von den Vertretungen des Volkes bestellt werden und diesen verantwortlich sind.
(3) Unter Leitung der Volksbeauftragten und nach ihren Weisungen obliegt die Durchführung der Gesetze und Verordnungen berufsmäßig angestellten Organen, die für ihre Tätigkeit den Volksbeauftragten verantwortlich sind.
(1) Die vollziehenden Organe des Bundes sind der Bundespräsident und die Bundesregierung samt den ihr unterstehenden Ämtern.
(2) Bundespräsident und Bundesregierung werden von der Bundesversammlung gewählt; zum Bundespräsidenten kann nur ein Bundesangehöriger gewählt werden, der das aktive Wahlrecht zum Bundestage hat und am 1. Jänner des Jahres, in welchem die Wahl stattfindet das 35. Lebensjahr vollendet hat; der Bundespräsident darf während seiner Amtstätigkeit keiner politischen Körperschaft angehören und keinen anderen Beruf ausüben; die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler, seinem Stellvertreter (Vizekanzler) und den Bundesministern.
(3) Dit[e] Bundesämter werden durch Bundesgesetz eingerichtet.
(1) Die vollziehenden Organe der Länder sind die Landesregierungen samt den ihnen unterstehenden Ämtern.
(2) Die Landesregierungen werden von den Landtagen gewählt; sie bestehen aus dem Landeshauptmann, seinem Stellvertreter und einer angemessenen Zahl von weiteren Mitgliedern.
(3) Die Landesämter werden im Rahmen der durch Bundesgesetz erlassenen grundsätzlichen Bestimmungen durch Landesgesetze eingerichtet.
(1) Gemeinden und Gemeindeverbände haben das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze.
7(2) Auch ihre Vertretungen müssen auf Grund des gleichen, direkten, geheimen und persönlichen Wahlrechtes der in ihrem Bereiche wohnhaften männlichen und weiblichen Bundesangehörigen gewählt werden.
Die Gerichtsbarkeit ist von der vollziehenden Gewalt getrennt und wird durch unabhängige Gerichte ausgeübt.
Alle mit der Ausübung der vollziehenden Gewalt oder der Gerichtsbarkeit betrauten Personen sind für jeden bei Ausübung ihrer Tätigkeit durch vorsätzliche oder grobfahrlässige Rechtsverletzung wem immer zugefügten Schaden nach den näheren Bestimmungen eines besonderen Bundesgesetzes haftbar.
Bundessache sind hinsichtlich Gesetzgebung und Vollziehung:
Bundessache sind hinsichtlich Gesetzgebung, Landessache hinsichtlich Vollziehung:
Bundessache sind hinsichtlich der grundsätzlichen Gesetzgebung, Landessache hinsichtlich der Durchführungsgesetzgebung und der Vollziehung:
(1) Wenn eine Angelegenheit nicht ausdrücklich durch die Bundesverfassung der Gesetzgebung oder auch der Vollziehung des Bundes übertragen ist, verbleibt sie im Wirkungsbereiche der Länder. Insoweit der Bundesgesetzgebung bloß die Regelung 11 der Grundzüge vorbehalten ist, obliegt die nähere Durchführung der Landesgesetzgebung innerhalb des bundesgesetzlich festgelegten Rahmens.
(2) Sofern in Angelegenheiten der Artikel 22 und 23 ein Akt der vollziehenden Gewalt für mehrere Länder Rechtswirksamkeit äußern soll, geht die Zuständigkeit für diesen Vollzugsakt, wenn die beteiligten Länder sich nicht selbst einigen, auf den Bund über.
(3) Die auf Grund der Artikel 22 und 23 zu erlassenden Bundesgesetze haben vorzusehen, ob und inwiefern über Antrag einer beteiligten Landesregierung der Vollzug auf den Bund übergeht, wenn ein Akt der vollziehenden Gewalt eines Landes Rückwirkungen auf ein anderes Land zu äußern geeignet ist, sofern sich die beteiligten Länder nicht einigen können.
(4) In jenen Angelegenheiten, die nach Artikel 22 und 23 zur Gänze oder der Regelung der Grundsätze nach der Bundesgesetzgebung vorbehalten sind, steht dem Bunde das Recht zu, die Einhaltung der von ihm erlassenen Vorschriften wahrzunehmen.
(5) Die Länder sind im Bereiche ihres Gesetzgebungsrechtes befugt, die zur Regelung des Gegenstandes erforderlichen Bestimmungen auch auf dem Gebiete des Straf und Zivilrechtes zu treffen. Insbesondere gilt dies auch für die Angelegenheiten der Landeskultur, wie Höferecht, Anerbenrecht, Jagd, Fischerei, landwirtschaftliche Dienstverträge und Zusammenlegung von Grundstücken und Neuordnung der Agrargemeinschaften.
(1) Durch die Bestimmungen der Artikel 21 bis 24 über die Zuständigkeit in Gesetzgebung und Vollziehung wird die Stellung des Bundes als Träger von Privatrechten (Eigentümer, Unternehmer, Pächter usw.) in keiner Weise berührt.
(2) Der Bund kann in allen diesen Rechtsbeziehungen durch die Landesgesetzgebung niemals ungünstiger gestellt werden als das betreffende Land selbst.
(1) Im Bereiche der Bundesländer wird die vollziehende Gewalt des Bundes entweder durch eigene Bundesbehörden (unmittelbare Bundesverwaltung) oder durch die Landesregierungen und die ihnen unterstellten Landesbehörden im Bundesauftrag (mittelbare Bundesverwaltung) ausgeübt.
(2) Eigene Bundesbehörden können für folgende Angelegenheiten errichtet werden: Regelung des Waren- und Viehverkehres mit dem Ausland, Zollwesen, Bundesfinanzen und Regelung der Finanzangelegenheiten zwischen Bund und Bundesländern, 12 Monopolwesen, Maß-, Gewichts-, Normen- und Punzierungswesen, Justizpflege, Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen, der Schiffahrt und der Luftschiffahrt, Strom- und Schiffahrtspolizei, Post-, Telegraphen- und Fernsprechwesen, Bergwesen, militärische Angelegenheiten, innere Einrichtung, Ausrüstung und Ausbildung der Gendarmerie, Sicherheitspolizei in der Bundeshauptstadt Wien und in den Landeshauptstädten. Dem Bunde bleibt es vorbehalten, auch in diesen Angelegenheiten die Landesregierungen mit der Ausübung der vollziehenden Gewalt des Bundes zu beauftragen.
(3) Soweit die Landesregierungen Bundesangelegenheiten durchzuführen haben, sind sie an die Weisungen der Bundesregierung sowie der einzelnen Bundesämter gebunden und ist für die Durchführung der Landeshauptmann der Bundesregierung verantwortlich.
(1) Alle Gesetzesbeschlüsse der Landtage sind unmittelbar nach erfolgter Beschlußfassung des Landtages und vor ihrer Kundmachung vom Landeshauptmann der Bundesregierung bekanntzugeben.
(2) Wegen Gefährdung von Bundesinteressen kann die Bundesregierung unter gleichzeitiger Mitteilung an den Bundesrat binnen vier Wochen vom Tage der eingelangten Beg[k]anntmachung an gegen den Gesetzesbeschluß des Landtages Einspruch erheben. In diesem Falle sind der Beschluß samt dem Einspruch der Bundesregierung und der etwaigen Äußerung des Bundesrates im Landtage neuerlich zur Verhandlung zu stellen.
(3) Wiederholt der Landtag seinen Gesetzesbeschluß, so ist dieser kundzumachen. Hat jedoch der Einspruch der Bundesregierung die Zustimmung des Bundesrates erhalten, so kann ein solcher Gesetzesbeschluß nur kundgemacht werden, wenn er bei Anwesenheit der Hälfte aller Mitglieder des Landtages mit einer Mehrheit von zwei Dritteln aller abgegebenen Stimmen wiederholt wird.
(1) Zur Überprüfung der Gebarung in der gesamten Staatswirtschaft des Bundes und der Länder, ferner die Gebarung der von Organen des Bundes oder der Länder verwalteten Stiftungen, Fonds und Anstalten ist der Rechnungshof berufen. 13 Er kann auch die Gebarung von Unternehmungen überprüfen, an denen der Bund finanziell be teiligt ist.
(2) Der Rechnungshof untersteht unmittelbar der Bundesversammlung.
(3) Der Präsident des Rechnungshofes wird von der Bundesversammlung gewählt und ist in bezug auf Verantwortlichkeit den Mitgliedern der Bundesregierung gleichgestellt.
Alle Urkunden über Staatsschulden (Finanz- und Verwaltungsschulden), insoweit sie eine Verpflichtung des Bundes beinhalten, sind vom Präsidenten des Rechnungshofes gegenzuzeichnen; durch diese Gegenzeichnung wird lediglich die Gesetzmäßigkeit und rechnungsmäßige Richtigkeit der Gebarung bekräftigt.
(1) Wegen Rechtsverletzung durch die Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde des Bundes oder eines Bundeslandes entscheidet nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges der Verwaltungsgerichtshof in Wien.
(2) Der Präsident und die eine Hälfte der Mitglieder werden auf Vorschlag der Bundesregierung, der Vizepräsident und die andere Hälfte der Mitglieder auf Vorschlag des Bundesrates vom Bundespräsidenten ernannt.
(3) Wenigstens die Hälfte der Mitglieder muß die Eignung zum Richteramte haben.
(1) Als oberster Hüter der Verfassung und Schiedsrichter zwischen dem Bunde und den Bundesländern fungiert der Verfassungsgerichtshof in Wien.
(2) Dem Verfassungsgerichtshof obliegt die Entscheidung über
(3) Der Präsident und der Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes werden von der Bundesversammlung, je die Hälfte der Mitglieder vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt.
(1) Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind für die von der neuen Nationalversammlung zu beschließende Bundesverfassung grundlegend.
(2) Eine Änderung dieser Bestimmungen ist insoferne zulässig, als sie von der neuen Nationalversammlung mit Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder beschlossen wird.
(3) Zu einer Änderung der Bestimmung des Artikels 10, Absatz 1, ist überdies auch notwendig, daß von den Abgeordneten jedes einzelnen Bundeslandes die Mehrheit für die Abänderung gestimmt hat.
(4) Im Rahmen der künftigen Bundesverfassung wird sich jedes Bundesland selbst seine eigene Verfassung zu geben haben.